Qualitative Inhaltsanalyse: Leitfragen als Codes übernehmen? Eine Antwort in 3 einfachen Gegenfragen.

Kann ich bei der Qualitativen Inhaltsanalyse nicht einfach die Leitfragen aus meinem Interviewleitfaden als Hauptkategorien meines Codebaumes nutzen? Wie so häufig in der qualitativen Forschung gibt es hierzu keine eindeutige Antwort, sondern es gilt, einige Aspekte “gegenstandsangemessen” abzuwägen. Dieses Abwägen ist allerdings schwer, gerade wenn man sich vielleicht zum ersten mal mit dem Thema qualitative Forschung beschäftigt. Also, wenn du dir aktuell die Frage stellst, ob du die Leitfragen als Codes übernehmen solltest, kannst du dir vermutlich mit diesen selbstkritischen Fragen das eigenen Vorgehen selbst herleiten:

Entspricht der Leitfragebogen wirklich meiner Untersuchungsfrage?

Können die Interviewpartner:innen wirklich eindeutig auf meine Fragen antworten?

Wer strukturiert hier was? – Fakten vs. Bedeutung

Fazit: Leitfragen und Codes haben unterschiedliche Funktionen

 

Entspricht der Leitfragebogen wirklich meiner Untersuchungsfrage?

Dies scheint mir eine Frage, die oft übergangen wird. Eine empirische Arbeit unternimmt (in der Regel) den Versuch, eine Forschungsfrage zu beantworten. Im Theorieteil reflektiert man hierzu, wie das Phänomen logisch und sprachlich beschrieben werden kann, um dann im Methodenteil zu überlegen, welche Art von empirischen Daten und Analysen bei der Beantwortung helfen können. Damit kommt man zur Untersuchungsfrage. Diese ist häufig nicht identisch mit der Forschungsfrage.

Die Forschungsfrage zielt den großen Rahmen:

“Welche Fragen sind unbeantwortet, welche Theoretischen Anknüpfungspunkte gibt es, welche Begriffe und Konzepte sind nötig, und wenn ja, wie können Sie definiert und angewandt werden.”

die Untersuchungsfrage beantwortet den kleinen Teilbereich:

“Was muss ich empirisch erfahren, um meine Forschungsfrage beantworten zu können.”

Um nun an die passenden empirischen Daten (bspw. Aussagen von Probanden) zu kommen überlege ich, wie ich im Interview einen Rahmen gestalten kann, in dem ich Antworten zu meiner Untersuchungsfrage erhalte. Dies führt mich zu meinem Interviewleitfaden oder anderen Methoden zur Gestaltung des Interviews, wie bspw. Strukturlegetechnik, Narration usw.. Dieser Punkt ist sehr voraussetzungsreich, da er sehr von meinen Erwartungen an die Interviewsituation abhängt. Zum Beispiel:

Mein Thema ist “Wie wird Macht in Paarbeziehungen verhandelt?” (Forschungsfrage) Ich entscheide mich hierzu als empirische Daten “Entscheidungsfindungen im Alltag” zu betrachten. (Untersuchungsfrage) und bitte daher die Gesprächspartner:innen mir zu berichten, wie Sie ihr letztes gemeinsames Urlaubsziel ausgesucht haben. (Leitfrage)

In diesem Fall enthält mein Leitfragebogen dann auch vielleicht optionale Fragen zur Präzisierungs- und Aufrechterhaltung des Gesprächs. Bei eher evaluativen Untersuchungen rücken Leitfragen und Untersuchungsfrage häufig näher zusammen. Zum Beispiel:

 “Wie wird das Programm XY von Expert:innen genutzt”. (Forschungsfrage) Ich interessiere mich z.B. für Bewertungen, genutzte Elemente und Probleme (Untersuchungsfrage). In diesem Fall ist eine Frage sicher: “Welche Elemente des Programms XY hast du benutzt?” (Leitfrage)

Die Untersuchungsfrage eine offene Frage: “Was will ich denn erfahren” oder “Welche empirischen Daten möchte ich denn gewinnen”. Der Interviewleitfaden ist dahingehend ein Gestaltungswerkzeug, um den Gesprächsverlauf zu strukturieren, aufrecht zu erhalten oder thematisch zu fokussieren. Sie haben also unterschiedliche Funktionen, die thematisch nicht unbedingt deckungsgleich sein müssen. So weit rein funktional gedacht. Spannend wird es auch, wenn man überlegt wonach man eigentlich fragen kann:

 

Können die Interviewpartner:innen wirklich eindeutig auf meine Fragen antworten?

Manchmal kann man Dinge direkt erfragen. Aber, die Idee des “Abfragens von Fakten” setzt voraus, dass diese Fakten den befragten Personen reflektiert und rational zugänglich vorliegen. Das was mich als Forscher:in interessiert, muss in diesem Fall auch den befragten Personen innerlich klar reflektiert vorliegen. Das ist vor allem in Untersuchungen der Fall, die eher evaluativ ausgerichtet oder inhaltlich sehr einfach gestaltet sind. Also eher dann, wenn du Fakten, Meinungen oder Beurteilungen “abfragen” willst wie z.B. “Welche Partei würdest Du wählen wenn heute Wahlsonntag wäre?”.

In diesen Untersuchungen entspricht meist eine Frage des Fragebogens einem sehr konkreten Thema und mein Leitfaden ähnelt einem Fragebogen mit offenen Antworten. Die Spannbreite der möglichen Antworten ist nicht vorgegeben, das Thema jedoch eindeutig operationalisiert. In diesem Fall ist es durchaus möglich und sinnvoll, die Fragen direkt als Hauptcodes zu nutzen. Letztlich repäsentieren die Fragen dann einzelne Variablen und die Antworten sind deren Ausprägen, die man dann z.B. mit Hilfe von QDA-Software herausarbeiten kann.

Häufig sind im Rahmen qualitativer Studien aber die Themen komplexer und sind im Lebensalltag mit verschiedenen anderen Aspekten verknüpft, überlappen sich, bedingen sich einander oder sind im Kern unbewusst. Es geht um Alltags- und Handlungswissen, das ggf. nicht rational reflektiert vorliegt. In diesem Fall muss ich in der Gesprächsführung einen Rahmen schaffen, in dem mein:e Gesprächspartner:innen über Ihren Alltagssituationen oder Ihr Handlungswissen berichten.

z.B. “Kannst Du mir mal eine Situation beschreiben, in der du dich für Parteipolitik interessiert hast.”

Hier sind die Leitfragen dann eher ein Hilfsmittel der Gesprächsführung, zusammen mit Nachfragen, Erzählimpulsen, Aufrechterhaltungsfragen etc. (mehr dazu z.B. in unserem Praxisbuch). In diesem Fall setze ich durch meine Fragen einen gewissen Rahmen: Ich bitte die Gesprächspartner:innen eher um ausführliche Schilderungen als um konkrete Antworten. Hier ist ganz klar: Das was mich interessiert ist nicht direkt in meiner Frage formuliert. Meine Fragen dienen hier dazu einen Rahmen zu setzen und Impulse zu geben. Mein Interesse und meine Fragen sind unter Umständen nicht identisch und gehören dann natürlich nicht 1 zu 1 in das Codesystem.

Wer strukturiert hier was? – Fakten vs. Bedeutung

Codes helfen in der Qualitativen Inhaltsanalyse prinzipiell dabei, das Material
1. systematisch zu strukturieren, um es dann

2. unter verschiedenen Aspekten zu betrachten und

3. diese Betrachtungen dann plausibel und nachvollziehbar für einen Ergebnisbericht zu nutzen.

Wenn die Struktur meiner Codes von den Leitfragen vorgegeben wird, dann ist davon auszugehen dass unser Gegenstand bereits bekannt und definiert ist. Diagnostische Fragebögen sind so aufgebaut und ein sehr gutes Beispiel dafür. Ziel eines solchen Vorgehens ist es, konkrete Fälle aufgrund eines etablierten Systems zu bewerten oder einzuordnen. In der Inhaltsanalyse wäre das zutreffend, wenn ich ein theoretisches Konzept wie z.B. Depressionskonzept nach Goldberg und Williams anwende, um zu sehen, wie dies z.B. in einem speziellen Milieu ausgeprägt ist. Es geht hier eher um eine faktenbasierte Strukturierung.

Ist der Gegenstand hingegen unbekannt oder vage, dann ist es genau meine Aufgabe, mit Hilfe des Codesystems, die zunächst vielschichtigen, konfusen und vielleicht widersprüchlichen Äußerungen sinnvoll zu strukturieren. Ich gestalte so mit Hilfe des Codesystems am Material einen ersten Entwurf für theoretische Begriffe und Zusammenhänge, die es überhaupt ermöglichen, dieses Phänomen systematisch zu beschreiben. Hier geht es eher um eine Strukturierung von Bedeutung und Zusammenhängen.

Diese beiden Herangehensweise funktionieren beide innerhalb der qualitativen Inhaltsanalyse. Diese Antinomie in der Inhaltsanalyse wurde schon von Kracauer 1952 thematisiert. Er beschreibt hier, dass Texte häufig mehr enthalten als Fakten und stets vielschichtig in einen Kontext eingebunden sind.

“Documents which are not simply agglomerations of facts participate in the process of living, and every word in them vibrates with die intentions in which they originate and simultaneously foreshadows the indefinite effects they may produce.” Kracauer (1952)

Ich lese das als einen Hinweis, dass man durchaus selbstkritisch sein sollte mit der Annahme es gehe in einem Interview stets um “reine Fakten”.

Fazit: Leitfragen und Codes haben unterschiedliche Funktionen

Die Antwort für die Frage “Leitfragen als Codes?” sollte man bereits bei der Planung des qualitativen Vorgehens stellen. Ist man sich hier unsicher, ist man vielleicht zu schnell über die Frage hinweggegangen, auf welche Weise man die Untersuchungsfrage letztlich beantworten kann. Braucht man hierzu klare, präzise, klar im Material zu extrahierende Fakten? Oder sind eher Argumentationsstrukuren, Gegensätze und die Schilderung von Handlungsabläufen hilfreich und erwartbar?  Daraus leitet sich dann letztlich das weitere Vorgehen ab.

Kurz gesagt:

Nutze deine Leitfragen, um den thematischen Rahmen des Interviews zu setzen – Nutze die Codes, um die Daten im Sinne deines Untersuchungsinteresses zu strukturieren. Das kann identisch sein, ist es häufig allerdings nicht.

Kracauer, Siegfried (1952): The challenge of qualitative content analysis. Public Opinion Quarterly, 16, S. 631-642

    Warenkorb
    Ihr Warenkorb ist leerZurück zum Shop
      Calculate Shipping