Qualitative Inhaltsanalyse – nach Mayring oder nach Kuckartz?

qualitative Inhaltsanalyse Checkliste abarbeiten

Beschäftigt man sich mit der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse begegnet man sehr wahrscheinlich zwei Namen: Philipp Mayring und Udo Kuckartz. Beide Autoren haben etablierte und viel rezipierte Ausarbeitungen zur Qualitativen Inhaltsanalyse veröffentlicht. Die methodischen Ansätze unterscheiden sich in einigen Punkten, weisen aber auch große Ähnlichkeiten auf. In diesem Artikel werden wir beide Ansätze vergleichen und einige Unterschiede herausstellen und hoffen so, eine Orientierungshilfe für all diejenigen zu geben, die sich gerade fragen, welchen der Ansätze man denn jetzt am besten verfolgen sollte.

Zum besseren Verständnis dieses Artikels sollten sie idealerweise schon eine grobe Idee von dem Verfahren der Qualitativen Inhaltsanalyse haben. Falls nicht kann man dies hier in unserem Praxisbuch oder hier als Kurzfassung nachlesen.

Disclaimer vor dem Start: Wir  sind “Kuckartz-sozialisiert”, haben in Marburg bei Kuckartz studiert und promoviert. Daher haben ich hier einen recht klaren Bias und berichten aus Erfahrungen in denen wir intensiv mit und nach Udo Kuckartz´ Ansatz gearbeitet haben. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir aus unserer Erfahrung ein paar Unterscheidungskriterien nennen können, die hier eine Orientierung für den Einstieg bieten können:

Qualitative Inhaltsanalyse! Aber welche?

Es gibt tatsächlich nicht DIE Qualitative Inhaltsanalyse, sondern viele Varianten derselben. Es existiert eine große Variationsbreite und unterscheiden sich mitunter deutlich von den Ansätzen von Mayring und Kuckartz. Die Diskussion also auf eine Frage “Mayring oder Kuckartz” zu verkürzen, ist ein wenig wie die Auswahl im Weinregal auf Riesling und Silvaner zu beschränken. Und dennoch eignen sich diese beiden Ansätze didaktisch sehr gut, um unterschiedliche Ausprägungen der Qualitativen Inhaltsanalyse zu skizzieren.

Wer da tiefer und methodologisch fundierter einsteigen möchte, dem seien die Veröffentlichungen von Margrit Schreier ans Herz gelegt. Schreier formuliert kein eigenes Ablaufmodell, sondern gibt einen Überblick über die verschiedenen Verfahren, mit denen man die Arbeitsschritte einer qualitativen Inhaltsanalyse jeweils passend zum Untersuchungsgegenstand gestalten kann. Sie etabliert das Bild eines „Werkzeugkoffers“, was wir überaus sympathisch finden. Allerdings hat dieser auch einen großen Haken: Der Werkzeugkoffer ist dann hilfreich und sehr gut umsetzbar, wenn man grundsätzlich weiß, worauf man achten möchte und welche Fallstricke das jeweilige Vorgehen vielleicht mit sich bringt.

Wenn man noch ganz am Anfang steht und die Qualitative Inhaltsanalyse lernen möchte, benötigt man zuerst einen Überblick und erste ganz konkrete Anhaltspunkte. Diese bieten Mayring und Kuckartz, die beide ganz konkrete Ablaufmodelle zur Inhaltsanalyse erarbeitet haben. Ich werde beider Modelle bewusst zuspitzen und zu Gunsten der Übersichtlichkeit mit „didaktischer Unschärfe“ auf Präzision und Ausführlichkeit verzichten.

 

Mayring der Wegbereiter und “Klassiker”

Mayring hat mit seiner Arbeit die Qualitative Inhaltsanalyse im deutschsprachigen Raum etabliert und bekannt gemacht. Sein 1982 veröffentlichtes Buch gilt unbestreitbar als „Klassiker“ der Qualitativen Inhalsanalyse und ist mittlerweile in der 12. Auflage erhältlich.

Die qualitative Inhaltsanalyse wird von Mayring in insgesamt acht verschiedenen Ablaufmodellen beschrieben. Mayring beschreibt dabei Methoden, bei der Kategorien theoriegeleitet entwickelt werden. Man benötigt also ein theoretisches Konzept auf das man sich bei der Formulierung von Kategorien beziehen kann. Seit der 6. Auflage hat Mayring eine Technik zur induktiven (am Material orientierten) Kategorienbildung hinzugefügt. Unterkategorien werden am Material identifiziert und dann theoriebezogen ausformuliert.

Zu jedem der Ablaufmodelle hat Mayring sehr ausführliche Interpretationsregeln ausgearbeitet. Sehr populär ist dabei sein “Dreischritt” aus Paraphrasierung, Generalisierung und Reduktion bei der induktiven Kategorienbildung. Als ein wichtiges Qualitätskriterium wird die InterCoder-Übereinstimmung genannt. Dieser Wert gibt an, wie übereinstimmend verschiedene Personen das gleiche Material mit dem gleichen Codesystem codieren. Die weiteren Möglickeiten der Analyse des codierten Materials – über eine Strukturierung hinaus – werden von Mayring nur angeschnitten, hier wird zentral eine Häufigkeitsanalyse der Antworten beschrieben.

Soweit stark verkürzt.

Kuckartz´ “qualitative Modernisierung”

Kuckartz hat – obschon er auch vorher schon inhaltsanalytische Arbeiten veröffentlicht hat – seine methodische Ausarbeitung ziemlich genau 30 Jahre nach Mayrings Erstveröffentlichung vorgestellt. Bei Kuckartz werden nur drei grundlegende Ablaufmodelle beschrieben. Variationen hiervon werden ausdrücklich genannt, allerdings nicht als separate Modelle ausformuliert. Es finden sich hier deutlich weniger explizit formulierte Regeln. Ich haben es nicht wirklich gezählt, aber sind sicher: Bei Kuckartz findet man häufiger offene Formulierungen wie „kann“, „könnte“ oder auch ein „hängt davon ab“. Die unterschiedliche Wortwahl fällt auch an anderen Stellen ins Auge: während Mayring „Interpretationsregeln“ im Indikativ entwickelt, kann man bei Kuckartz des Begriff „Guidelines“ finden, bei denen häufig der Konjunktiv verwendet wird. Also formuliert Kuckartz insgesamt nicht so “streng”.

Einige Punkte an Mayrings Modell werden von Kuckartz kritisch beleuchtet. Drei Punkte möchte ich hierbei beispielhaft herauspicken: Die induktive Kategorienbildung, den Fallbezug und die Qualitätskriterien.

Die Anwendung der Inter-Coder Übereinstimmung als Gütekriterium für qualitative Inhaltsanalyse sieht Kuckartz kritisch. Er widmet diesem Koeffizienten sogar ein ganzes Kapitel, um beispielhaft zu zeigen, wie problematisch und voraussetzungsreich die Berechnung eines solchen Wertes bei qualitativen Daten ist. Kuckartz setzt hier eher auf Kriterien, die aus der rekonstruktiven Sozialforschung stammen, wie z.B. konsensuelles Codieren, Zuverlässigkeit und Übertragbarkeit.

Auch die – bei Mayring explizit theoriegeleitete – induktive Kategorienbildung durch Paraphrasierung beschreibt Kuckartz kritisch. Insbesondere das Paraphrasieren sei bei der Erstellung konsistenter induktiver Kategorien nicht unbedingt hilfreich. Die Paraphrasierung beschreibt Mayring als einen Weg, um nachvollziehbar Kategorien aus dem Originalmaterial abzuleiten. Dies sieht Kuckartz kritisch, da es hier schnell zu fraglichen Inhalten kommen kann, die dem Originaltext ggf nicht gerecht werden. Kuckartz arbeitet lieber direkt mit der unveränderten Textstelle. Hier erscheint die Vermutung plausibel, dass Kuckartz, als Erfinder der QDA-Software MAXQDA, die Nachvollziehbarkeit der Arbeitsschritte durch die softwaregestützte Analyse gewährleistet sieht und dadurch der Zwischenschritt der Paraphrasierung übersprungen werden kann. Kuckartz ist insgesamt bei den Methoden zur Bildung von induktiven Kategorien deutlich offener und empfiehlt z.B. auch den Rückgriff auf andere Methoden wie bspw. der Grounded Theory.

Und zuletzt ist Kuckartz wichtig, dass zunächst der Fall, also das Interview „als Ganzes“, mitsamt der Vieldeutigkeiten und Widersprüche berücksichtigt wird. Auch Mayring spricht davon, den Kontext und den Entstehungszusammenhang des Interviews zu beleuchten, hat hierzu jedoch keine genaueren Arbeitsschritte beschrieben. Kuckartz hingegen führt in seinem Modell einen eigenen Schritt „initiierende Textarbeit“ genauer aus: Einen eigenen Arbeitsschritt in dem das Interview zunächst auf inhaltlicher Ebene zusammengefasst wird und Besonderheiten im Interviewverlauf festgehalten werden.

Unsere Einordnung

Das sehr strukturierte und theoriegeleitete Vorgehen, mit den vielen Interpretationsregeln bei Mayring scheint erst einmal den Vorteil zu haben, dass es eine klare Anleitung gibt. Diese scheinen uns jedoch ohne Erfahrung sehr schwer auf eigene Projekte anzuwenden. Viele Regeln stehen für sich selbst und werden nicht näher erläutert. Bspw. beschreibt Regel E1.1 „Bestimme die vor dem sprachlichen und soziokulturellem Hintergrund relevanten Lexika und Grammatiken“? Damit wird nicht jede:r sofort etwas anfangen können, weil ggf. (sprach-)wissenschaftliche Voraussetzungen fehlen. Daher bleiben aus unserer Sicht trotz der ausführlichen Beschreibung der Interpretationsregeln (zu) viele Fragen offen.

Kuckartz erscheint uns einfacher zugänglich und für den Anfang besser geeignet, um eine Vorstellung von den Facetten des Ablaufs Qualitativer Inhaltsanalyse zu erhalten. Der deutlich offenere Ansatz von Kuckartz scheint zudem moderner und eher an den Methoden qualitativer Verfahren und der Nutzung von QDA-Software orientiert.

Um es mal ganz plakativ einzuordnen bringe ich es auf die verkürzte Formel:
„Mayring eher theoriegeleitet, strukturiert, Kuckatz eher am Material und offen.“

Für eine solche Charakterisierung spricht, dass Mayring stets den Theoriebezug ins Zentrum stellt, während Kuckartz für eine noch deutlichere qualitative Ausrichtung der Inhaltsanalyse plädiert, z.B. durch die Einbeziehung der initiierenden Textarbeit oder von Methoden der Grounded Theory Methodologie. Gleichwohl bleibt auch Kuckartz explizit offen, in der Analyse auch quantitative Methoden einzusetzen.

Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass man – egal welchen Ansatz man wählt – bei einer Qualitativen Inhaltsanalyse – fast schon zwangsläufig – immer wieder auf offene Fragen, knifflige Entscheidungen oder unklare Definitionen triff. Dieser Herausforderung wird man bei allen qualitativen Verfahren begegnen. Das macht eben auch den qualitativen Forschungsprozess aus.

 

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Weitere zitierfähige Hilfestellungen gibt´s in unserem kostenfreien Praxisbuch (PDF Download)

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